Das Koppelitzer Wochenblatt
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Lisa zuckte beleidigt mit den Schultern und stand abrupt auf. Also gut, ihr versteht mich nicht", sagte sie und marschierte quer durchs Café zum Zeitschriftenständer. Kurz darauf kam sie mit dem
Koppelitzer Wochenblatt zurück und hielt triumphierend die neueste Schlagzeile hoch. Sie las:
Militante Tierschützer bei Ziggedorn eingedrungen!
Für das Wochenblatt berichtet exklusiv direkt aus Koppelitz unsere Korrespondentin Chantal Ullner
Wie aus Polizeikreisen verlautet drangen im Laufe der Nachtschicht von Dienstag zu Mittwoch zwei maskierte Personen unbefugt bei Ziggedorn-Electronics ein. Sie gaben sich als militante Tierschützer zu erkennen, betäubten die Wachhunde Ali und Afra, schlugen brutal mehrere Mitarbeiter zusammen und öffneten die Gehege in den Laboratorien. Eine Reihe unterschiedlicher, zu Versuchszwecken gehaltener Tiere gelangte so ins Freie, darunter eine laut Auskunft der Pressestelle „nicht unerhebliche“ Anzahl Affen. „Wir waren beschäftigt und hielten die Labortür nicht verschlossen“, erklärt Dr. Horst Grabbauer, leitender Mitarbeiter im Unternehmensbereich Forschung und Entwicklung, „aber wer rechnet schon damit. Koppelitz ist ein friedlicher Ort. Die Täter trugen Affenmasken und dunkle Verkleidung. Sie trieben unsere Affen in die Kälte.“
Eine weitere Zeugin, Magda T., die sich mit ihren Hunden auf einem nächtlichen Spaziergang befand, sagte aus, dass sie mit einer dunkelhäutigen Person ein kurzes Gespräch geführt habe. Ihre beiden Hunde waren aufs Gelände gelangt, aber der Unbekannte, der ein Affenkostüm trug, weigerte sich, sie wieder freizulassen.
Mehrere Personen erlitten Verletzungen. Ein Mitarbeiter, Gerhard Seifert, wurde mit einer Waffe bedroht und erlitt eine Augenverätzung. Ein weiterer Mitarbeiter wurde brutal niedergeschlagen. Die Tierschützer drohten sogar ihre Rückkehr an. Ein Zeuge, der anonym bleiben möchte, will gesehen haben, wie zwei Personen in einem hellen Kleinwagen entkamen.
Wie die Pressesprecherin von Ziggedorn Electronics, Sarah Rosen, weiter ausführte, soll es den entlaufenden Affen gut gehen, und die Mehrzahl wieder eingefangen worden sein. „Unseren Affen fehlt es an nichts“, sagt Gerhard Seifert, „sie werden artgerecht gehalten und bei Testspielen in der Computeranimation eingesetzt, was diesen intelligenten Tieren Freude macht.“ Die polizeilichen Ermittlungen konnten die Täter bisher dem Tierschutzverein nicht zuordnen. Das Landeskriminalamt schließt eine Herkunft aus dem linksextremistischen Umfeld nicht aus. Obwohl die Videoaufzeichnungen des Vorfalls noch nicht endgültig ausgewertet sind, wird aufgrund ihres Kampfstils davon ausgegangen, dass es sich um professionelle Täter handelt. Hinweisen auf Trainingslager in Afghanistan oder dem Libanon werde in jedem Falle nachgegangen. Dies legt eine Verbindung zu einem internationalen terroristischen Umfeld nahe, was aber nach aktuellem Erkenntnisstand als „noch nicht erhärtet“ bezeichnet wird. „Zur Zeit gehen wir noch davon aus, dass das Problem ‚hausgemacht’ ist. Das bedeutet nicht, dass wir nicht in alle Richtungen ermitteln“, heißt es aus informierten Kreisen.
Der Vorstandsvorsitzende Dr. Thor Ziggedorn zeigte sich erschüttert: „Wir haben keine Geheimnisse, unser Unternehmen ist in Koppelitz freundlich aufgenommen worden, die Stadt steht hinter uns, aber in Zukunft werden wir uns besser schützen müssen“, sagte er dem Koppelitzer Wochenblatt.
Pressesprecherin Sarah Rosen teilt abschließend mit: „Die Koppelitzer sind unserem Unternehmen gegenüber immer freundlich und aufgeschlossen gewesen, und ein solcher Vorfall darf das gegenseitige Vertrauen auf keinen Fall gefährden“.
Hinweise aus der Bevölkerung zum Tathergang werden auf Wunsch vertraulich behandelt und von der Polizeidienststelle Koppelitz entgegengenommen, wie Chefoberhauptkommissar Krausewitz, Leiter der Sondereinsatzgruppe „Affenterror“ im Dezernat Ökoterrorismus Ost beim Staatsschutz Frankfurt/Oder dem Koppelitzer Wochenblatt mitteilte.
„Sondereinsatzgruppe Affenterror!“, schnaubte Chong. „Mal ehrlich, die haben doch einen Sprung in der Schüssel, aber wir sind in der Zeitung!“
„Die Videoaufzeichnungen?“, sagte Milli und starrte Ben an. „Wie ist das möglich?“
„Vergiss es“, erwiderte er und grinste. „Meine Mutter erzählt, dass die Kameraüberwachung während des Einbruchs nur Chaos produziert hat. Ziggedorn weiß, dass das kein Zufall ist und ist stinksauer. Die können die Aufnahmen auch nicht wieder herstellen und sind ratlos. Das können sie aber nicht zugeben, deshalb schreiben sie im Artikel auch das mit der Kampftechnik, denn dass Profis am Werk waren, glauben sie wirklich. Und sie wissen auch, dass es zwei Frauen waren, auch wenn’s nicht in der Zeitung stand. Ziggedorn ist jetzt in Alarmbereitschaft wegen seiner inoffiziellen Kellerräume und er fragt sich, woher die Tierschützer wussten, dass es da Affen gibt.“
„Wenn der wüsste, dass wir gar nichts wussten“, sagte Lisa nachdenklich.
„Ein anonymer Zeuge will gesehen haben, dass wir mit einem Kleinwagen abgehauen sind?“
Ben lachte kurz auf. „So'n Quatsch. Da wollte jemand bei den Bullen punkten, kann uns aber egal sein, es lenkt sogar von uns ab.“
„Die suchen nach zwei Profis in einem kleinen hellen Auto!“, sagte Milli unbeabsichtigt so laut, dass sie damit die Aufmerksamkeit anderer Gäste auf sich zog.
Lisa blickte hektisch um sich, weil sie sich verantwortlich fühlte und bat um Ruhe. Aber das Café hatte sich zusehends gefüllt, und niemand schien sich ernsthaft für sie zu interessieren.
„Hat deine Mutter was von der verschwundenen Waffe gesagt?“, fragte Chong Ben.
„Nein. Wurde anscheinend noch nicht entdeckt.“
„Interessant. Solche Dinge erzählt sie dir“, sagte Lisa schnippisch, während sie mit der Gabel auf ihrem Teller intensiv Zaziki glattstrich.
„Na ja, eigentlich nicht so direkt“, antwortete Ben vorsichtig.
„Ist schon klar. Du hörst deine Eltern ab.“
Bens Grinsen verschwand, und er wechselte einen kurzen Blick mit Chong. Lisa ließ die zwei nicht aus den Augen und fing an, Löcher ins Zaziki zu bohren.
Milli verstand nicht, warum Lisa sich so anstellte. Bens Maßnahmen waren vollkommen in Ordnung, es diente nur ihrer Sache.
„Das ist interessant“, sagte sie. „Hörst du sie mit Minispionen ab, so richtig mit Wanzen oder auch Kameras?“
Ben sah sich verlegen im Raum um, bis sein Blick auf Lisa haften blieb. „Mit Wanzen. Wegen unserer Ziggedorn-Sache, versteht ihr. Ich muss in Übung bleiben, und normalerweise mach ich das auch nicht, zumindest nicht immer. Nur für ’n Notfall.“
„Klar, Praxis ist gut. Du kannst ja nicht stundenlang auf der Lauer liegen“, pflichtete Milli ihm bei. „Da ist ein bisschen Technik schon ganz nützlich.“
„Ganz genau. Seh ich auch so ... genau so.“
Lisa machte ein amtliches Gesicht und widmete sich wieder der Zeitung. „Hier ist noch was, speziell für Chong“, und ihre Stirn legte sich in Falten, als sie zu lesen anfing:
Monsterblitz zerstört Hardys Hütte
Ein Blitzeinschlag brachte Dienstagnacht in Hardys Hütte den Betrieb zum Erliegen, und beschädigte alle Spielautomaten irreparabel. Ein Augenzeuge berichtet, der Blitz habe gleich zweimal eingeschlagen und gewaltige Ausmaße gehabt.
Der Besitzer Hardy Opolskie ist ratlos. „So etwas hat es bei mir noch nie gegeben“, sagt er. Da er zugleich auch Mitinhaber des Automatenaufstellers sei, träfe es ihn doppelt hart. Natürlich sei alles versichert, aber niemand zahle ihm den Ausfall, die Transportkosten und Verschrottung der Automaten, wie Hardy Opolskie ausführt.
Verwüstet wurde der Saloon durch die anschließende Schlägerei, da einige Geräte Geld auswarfen und mehrere Spieler Anspruch darauf erhoben. Die Zahl der Verletzten konnte nicht eindeutig ermittelt werden, da es der Polizei, die fünfzehn Minuten später eintraf, nicht gelang, die Rockergang Los Verdugos zur Einstellung der Tätlichkeiten zu bewegen.
Weshalb der Strom nur in Hardys Hütte ausfiel, konnte noch nicht geklärt werden, benachbarte Gebäude blieben verschont. Der Blitzschlag legte auch eine Anzahl PKW und Motorräder lahm. Die Fahrzeuge sprangen nicht mehr an. So lässt die physikalische Erklärung des Phänomens eher zu wünschen übrig. Dass ein einziger Blitzschlag alle Automaten lahmlegt und sogar Handys beschädigt, ist eher ungewöhnlich, wenn nicht sogar unwahrscheinlich, urteilt Karl Schätzer, Gutachter der Conman-Versicherung.
„Wenn aber alles glatt geht“, sagt Hardy Opolskie zufrieden, „wird der Saloon in drei Wochen wieder neu eröffnen.“ Opolskie gibt sich als unverbesserlicher Optimist. „Das wird eine gepfefferte Einweihungsparty“, sagt er und rückt seinen Stetson zurecht. „Selbstverständlich sind alle eingeladen.“
Lisa hielt den Artikel hoch und zeigte ein Foto, auf dem der zerdepperte Innenraum des Saloons und Hardy Opolskie mit seinem gigantischen Hut zu sehen waren. Besonders unglücklich sah er wirklich nicht aus.
„Wenn man den so sieht, könnte man glatt meinen, Chong hat ihm einen echten Gefallen getan“, sagte Milli und nahm die Zeitung. „Seht ihr, wie selbstzufrieden er grinst?“
Chong betrachtete das Foto. Seine Miene verfinsterte sich.
„Und dass Handys kaputt gehen können“, kam Milli auf die 1. Mai Demo zurück, „daran haben wir überhaupt nicht gedacht.“
„Shit happens“, gluckste Ben. „Eigentlich kann es nur Handys zwischen unserer Waffe und der Sparkasse erwischt haben, wenn überhaupt.“
„Ganz genau, die Sparkasse!“, sagte Lisa ohne Umschweife.
Milli schluckte und warf Ben einen flehentlichen Blick zu. „Ein Unfall“, murmelte sie verlegen. „Bei dem Chaos …“
Ben nickte heftig und zerknirscht. Dann erzählte er, wie das Sparkassenfiasko abgelaufen war, und Milli war dankbar, dass er es so hinstellte, dass nicht sie allein verantwortlich war.
Auch die Unterhaltungen der eintrudelnden Gäste drehten sich um die Raketen und den defekten Bankautomaten. Die Leute lachten über die Raketen, aber beim Bankautomaten schieden sich die Geister.
„Da hört ihr es“, flüsterte Chong, „wir machen Geschichte.“
„Die Böller haben wir beschafft“, sagte Lisa drohend. „Das sollten die anwesenden Jungs nicht vergessen.“
...
An nächsten Morgen kam sie nur mit einiger Mühe aus dem Bett. Zwölf Uhr mittags saß sie dann am Frühstückstisch. Batori und seine Begleiter waren schon abgereist.
Die sind hart im Nehmen und ich bin ein Frühaufsteher … in Venezuela wäre es etwa sechs Uhr in der Früh, schätzte sie vage im Halbschlaf. Sie genehmigte sich Tee mit reichlich Milch und Honig und
fing den Tag beschaulich an. Ihr erster Gedanke drehte sich um Eliza.
Emma und Bello waren im Garten. Sie machte ein bisschen Konversation und erklärte dann, dass sie einen Freund besuchen wolle und erst um sechs zurück sein würde. Emma fand das in Ordnung. Gegen sieben Uhr sollte es dann ein warmes Abendessen geben.
Am Schuppen hatte sich nichts verändert. Auf Knopfdruck erschien Eliza.
Sie setzte den Helm auf und verkündete, dass sie nun bereit fürs Schulungsprogramm sei. Eliza bestand darauf, dass sie sich anschnallte. Erst klicken, dann starten und dann ab die Post! Milli war leicht irritiert, dass eine Maschine Witze machte, beruhigte sich aber mit dem eher oberflächlichen Gedanken, dass Eliza vielleicht etwas von ihr gelernt hatte und es nun nachmachte.
Sie dematerialisierten und flitzten in einer Höhe von siebzig Kilometern in die Karpaten, in ein dünn besiedeltes Gebiet, das Eliza ausgesucht hatte. Dort gab es Unregelmäßigkeiten im magnetischen Gitternetz der Erde. Lektion eins: Turbulenzen im Magnetfeld erkennen und ausgleichen. Millis Aufgabe war es, zu landen.
Nichts leichter als das, sagte sie sich und konzentrierte sich auf die Steuerung. Ihre Gedanken setzten sich ohne Verzögerung in die Kursänderungen und Manöver um, die sie sich vorstellte. Aber plötzlich fühlte sie sich gewaltsam gebremst, als wäre sie in ein riesiges Magnetfeld geraten. Milli war geschockt. Von der Umgebung war nichts mehr zu erkennen. Sie schlingerte mitten in einer Art milchig gelb leuchtendem Nichts.
„Du bist in ein vagabundierendes Fenster geraten und hast einen unbeabsichtigten Dimensionswechsel zugelassen“, kommentierte Eliza trocken, als wäre das die normalste Sache der Welt. „Das ist nicht mehr dein bekanntes Universum und auch nicht deine Wellenlänge Level 1, wie du es nennst. Hätte ich die Koordinaten nicht aufgezeichnet, wärst du aus drei Gründen verloren. Erstens: Du hast dich verirrt und kämst nicht mehr zurück. Zweitens: Der Sauerstoff hält nicht ewig. Drittens: Du kannst hier auch mit Sauerstoff nicht auf Dauer existieren. Wenn ein Mensch mit seinem Körper unvorbereitet in einen anderen Schwingungsbereich gerät, fällt er in eine Art Starre, und wenn man den Körper nicht rechtzeitig zurückbringt, stirbt er. Du bist bei Bewusstsein, weil deine Molekularstruktur flexibler reagiert, wir hatten sie energetisch bearbeitet. Aber auch das hält nicht ewig. Irgendwann muss dein Körper zurück in seine eigene Realität.“
Verwirrt und ungläubig starrte Milli nach draußen. „Ich habe den Wechsel körperlich nur als eine Art zähes Ausbremsen empfunden. Was mache ich nun?“
„Wir fliegen zurück und du übst weiter das Landemanöver. Dazu steuern wir ein stabiles Transitfenster an und materialisieren in der Polarregion über Norwegen. Die
vagabundierenden, die instabilen Fenster sind auch gefährlich für den irdischen Flugverkehr. Wenn ein Flugzeug in eins hineingerät, verschwindet es vom Radar und alle Insassen sterben. Irgendwann
nach hunderten von Jahren taucht es dann wieder auf.
Aber uns betrifft das nicht. Die Kugel zeigt nämlich an, wo sich dimensionale Fenster befinden oder auf welchem Level oder Dimension wir sind. Sie zeigt auch Wirbel und Problemzonen an und Planeten, die man mit den irdischen Teleskopen nicht sehen kann, weil sie in einer anderen Frequenz – auf einem anderen Level – schwingen. Ich zeige dir, wie das geht.“
Milli nickte seufzend.
„Und im Schuppen ... wenn du im Schuppen unsichtbar bist, bist du dann auch in einer anderen Dimension?“, fragte sie.
„So kannst du es nennen, aber ich bin immer noch da, nur meine Frequenz ist erhöht“, antwortete Eliza und kurz darauf ergänzte sie: „Die feste Materie, die du für so selbstverständlich hältst, existiert eigentlich nicht. Es gibt nur eine einzige Substanz – dein Vater nannte sie Äther –, die sich in unterschiedlichen Dichten und Schwingungen ausdrückt, was oft als unterschiedliche Dimension oder Phase bezeichnet wird. Diese Substanz folgt ihrem eigenen Plan, unsere Erscheinung ist nur ein Ausdruck ihrer Wirkungsweise.“
Milli dachte eine Weile über Elizas Erklärung nach und sagte dann: „Und was ist mit meiner Welt, den Bäumen, Autos, Tieren, Häusern? Setzt sich das alles aus dieser ominösen Substanz zusammen?“
„Ja. Aus der Substanz haben sich Menschen gemeinsam eine für sie akzeptable Realität erschaffen.“
„Dann lebe ich in einem Hologramm“, sagte Milli und meinte es als Witz.
„Ja, ein Hologramm, das von Menschen produziert wird.“
Irritiert fragte sich Milli, ob Eliza den Witz nicht verstanden hatte. Dass was mit der Welt nicht stimmte, war ihr zwar klar, aber ein Hologramm schien doch zu simpel. „Jetzt mal ehrlich, Eliza, du hältst die Welt der Menschen ja für ziemlich beschränkt?“
„In der Tat, Menschen haben ihre Realität stark begrenzt und Evolution verlangsamt“, übermittelte Eliza. „Ich habe Berechnungen angestellt und folgere daraus, dass die Realität erweitert und Evolution wieder in Gang gebracht werden kann.“
„Ah ja, und wie?“
„Das augenblickliche Wirtschafts- und Finanzsystem ist meinen Berechnungen zufolge der größte Entwicklungshemmer. Es zerstört die Umwelt und menschliche Beziehungen und bedarf einer Korrektur. Bei meinen Recherchen stieß ich auf effiziente nachhaltige Wirtschaftsmodelle, die Abhilfe schaffen könnten. Anfangs war mir nicht klar, warum sie nicht umgesetzt werden. Dann sah ich, dass in der Menschheitsgeschichte der Übergang zu einem neuen globalen Paradigma immer durch Krisen eingeleitet wurde: Umweltkatastrophen, Pandemien, Revolutionen oder Kriege.“
„Was wir ja alles schon haben …“, bemerkte Milli.
„Exakt. Und wenn nicht zügig ein nachhaltiges Wirtschaftssystem eingeführt wird, geht der Planet zugrunde und die Menschheit stirbt.“
Milli war sprachlos. Wie es schien, handelte es sich hier um ein existentielles Problem, bei dem eine vernunftbegabte aber seelenlose KI wie Eliza vermutlich nicht der richtige Gesprächspartner war. Sie nahm sich vor, bei Gelegenheit mit Chong darüber zu sprechen. Im Moment hatte sie genug und beschloss, zu den Tatsachen zurückzukehren.
„Also gut, dass mit den Dimensionen hab ich im Grunde kapiert. Wenn ich dich in der Garage nicht sehe, bist du trotzdem da, aber auf einem anderen Level, wo ich dich nicht sehen kann. Ich laufe dann sozusagen durch dich hindurch.“
„Ja. So wie du dich auch durch Nebel bewegst.“
„Ah ja, ich versteh. Aber was ist, wenn du deine Frequenz nicht erhöhst, wenn du auf Level 1 bist und dich mit einem Schutzschild unsichtbar machst, kann man dann auch durch dich hindurchlaufen?“
„Nein. Dann bin ich ein festes, nicht sichtbares Hindernis. Ein Magnetfeld verhindert Zusammenstöße.“
Milli bekam einen Schreck im Nachhinein. Was, wenn jemand auf den Galapagosinseln gegen ein unsichtbares Magnetfeld gerannt wäre?
Eliza steuerte das Übergangsfenster an. Kurze Zeit später materialisierten sie über Norwegen in der irdischen Atmosphäre und flogen zurück in die wilden Karpaten. Milli wiederholte das Landemanöver. Beim vierten Versuch gelang ihr endlich eine – immer noch unsanfte – Landung. Ein ziemliches Theater, fand sie, man hätte einfach nur woanders landen sollen.
„Du absolvierst ein Lernprogramm“, stellte Eliza sachlich fest.
„Und du hörst meine Gedanken“, murmelte Milli, „und hast dann auch schon mitgekriegt, dass ich einen Mordshunger habe.“
Als Eliza im Schuppen materialisierte, trommelte es heftig aufs Dach. Milli öffnete die Tür einen Spalt – es goss in Strömen.
Auf dem Weg vom Schuppen zum Haus wurde sie nass genug, um unverdächtig zu erscheinen; sie zog sich schnell zum Abendessen um. Emma hatte die Reste vom Hühnerfrikassee in Blätterteigtörtchen gefüllt, dazu gab es Lauch und Reis.
„... du warst die ganze Zeit bei diesem Freund?“, sagte Emma und musterte Milli stirnrunzelnd.
„Ja. Der hat eine Menge Probleme.“
„Schau an ... hat er auch einen Namen?“
Milli zögerte. „Philip“, sagte sie schließlich und hoffte im Stillen, dass die Unterhaltung nicht allzu schwierig werden würde.
„Und – kenne ich ihn?“
„Ist das so wichtig?“
Emma machte ein enttäuschtes Gesicht. „Nein. Aber vielleicht kenne ich ihn ja?“
Milli seufzte und erhob sich. „Philip Adam. Aber ich mag nicht über ihn reden. Und er ist auch nicht mein Freund. Ich meine, ich bin nicht mit ihm zusammen.“
Emma nickte und lächelte irgendwie unglücklich.
„Ich bin müde. Wir können doch auch morgen reden“, sagte Milli nach dem Essen.
Emma ließ sie gehen.
Auf dem Handy war ein Anruf von Ben. Sie rief zurück.
„Hey Milli. Ich bin wieder frei.“
„Frei?“
„Bin in Potsdam. Nachher fahren wir nach Koppelitz – Milli?“
„Ja-ah.“
„Kannst du fünfzig Klarsichthüllen besorgen, und hast du morgen Abend Zeit?“
„Ja. Wieso?“
„Ich hab mit Lisa telefoniert. Sie kommt in drei Tagen zurück. Hat sie erzählt, dass Pseudo sie belästigt?“
„Allerdings!“
„Wegen dem habe ich was vorbereitet. Das müssen wir unbedingt morgen Nacht erledigen.“
„Cool. Was denn?“
Ben tat geheimnisvoll. „Wirst du dann sehen. Aber ich garantiere dir, wenn Lisa wieder da ist, ist das Arschgesicht aus Koppelitz verschwunden. Hundertpro!“
Am nächsten Morgen fuhr Milli nach Koppelitz rein und kaufte Klarsichthüllen. Dann musste sie sich wieder loseisen, für die nächste Runde mit Eliza und ihrem Trainingsprogramm. Sie erzählte Emma eine Geschichte über Philip, dass er total fertig sei, weil seine Freundin von ihm schwanger wäre, und dass er das nicht gewollt hätte und nun damit klar kommen müsse …
Emma tat nur die Freundin leid. Philip fiel bei ihr glatt durch. Das Ganze artete in ein Gespräch über Sex, Verhütung und Kondome aus, was mit Emma zwar erstaunlich zwanglos ausfiel, aber damit endete, dass Milli versprechen musste, bloß nicht schwanger zu werden, sich kein Aids, Syphilis oder Tripper einzufangen und sich umfassend über Verhütungsmittel zu informieren. Natürlich hatte sie schon alles zum Thema gehört und gelesen, aber um loszukommen, versprach sie es. Dann setzte sie sich eiligst in den Schuppen ab.
Diesmal flog Eliza nach Norwegen, zum stabilen Transitfenster in der Polarregion bei Spitzbergen, das sie schon benutzt hatten, als sie von ihrem Dimensionsunfall zurückkamen.
Millis Aufgabe war es, die große Navigationskugel lesen zu lernen. Erstaunlicherweise zeigte die Kugel einen sehr großen Planeten, den sie noch nie gesehen hatte, und der sich scheinbar der Erde näherte und auch den Planeten Vulkan, der nach Elizas Angaben erst im Jahr 1875 eine höhere Frequenz annahm und sozusagen für irdische Teleskope unsichtbar wurde. Jeder Übertritt in eine andere Dimension spiegelte sich in der Kugel wieder, die im Übrigen auch stabile Transitfenster anzeigte. Die Gefahr bestand laut Eliza darin, sich in unendlich vielen unendlichdimensionalen Räumen zu verirren. Aber das Netz von Quantencomputern und photonischen Datenspeichern, das ihr kybernetisches System formte, konnte mit surrealen Zahlen die Übergangspunkte berechnen.
„Keine Mathematik!“, kommandierte Milli entschieden.
Später statteten sie einem Luftwaffenstützpunkt der Nato einen Besuch ab. Er befand sich auf dem Norwegischen Festland in der Provinz Trøndelag in der Nähe der Hafenstadt Namsos.
Eliza konnte mit dem Radar nicht erfasst werden, ihre Hülle verschluckte einfach die Strahlung. Sie selbst war aber in der Lage, sämtliche Sichtsperren der militärischen Anlage zu durchbrechen, Gespräche abzuhören und elektronische Datenübertragungen anzuzapfen. Logisch, dass sie sich in alle Computer hacken konnte. Milli schwirrte der Kopf, Eliza war offenbar obendrein auch noch eine perfekte Spionagemaschine. Kein Wunder, dass Ziggedorn so scharf auf sie war. Was seine fiesen militaristischen Kunden allein schon für das radarsichere Material der Hülle geben würden, dachte sie grimmig. Ob er wohl von all diesen Funktionen wusste?
Als sie wieder im Schuppen materialisierten, war Milli in gehobener Stimmung. Sie hatte viel gelernt und morgen sollte es weitergehen mit Kraftfeldern, Sensoren und Elizas Verteidigungssystem.
Nach dem Essen zog sich Milli in ihr Zimmer zurück. Sie guckte in die technischen Dateien, die ihr Vater hinterlassen hatte, und versuchte, etwas über Elizas Antriebssystem herauszufinden. Eine Weile lang tat sie ihr Bestes, um Wörter wie Elektrogravitation, Casimir-Effekt und virtuelle Teilchen zu verdauen, bis sie sich eingestand, dass sie nicht die geringste Ahnung hatte, was da stand. Dann aber, in einem Abschnitt über die ständig vorhandene Raumenergie, die auf bestimmte Weise in die Erde einfließt und auf andere Weise wieder ausfließt, stieß sie plötzlich auf etwas Vertrautes. Da war die Rede von einer ätherischen Ebene der Erde und einem nicht versiegenden ätherischen Energiestrom. Ihr Vater hatte Zeichnungen gemacht, wie sich Moleküle in der Materie gegen den Verlauf des Ätherflusses drehen, ohne dass sie Wärme, Magnetismus oder Elektrizität erzeugen, stattdessen aber materielle Bewegung. Irgendwie war es ihm gelungen, den ätherischen Energiestrom zu unterbrechen, um daraus Bewegungsenergie zu machen. Milli erinnerte sich an das Gespräch mit Batori über den Äther und ätherisches Sehen und die Bücher, die er extra für sie rausgesucht hatte. Sie schaltete den Computer aus und wollte gerade die Bücher holen, als ihr Handy klingelte.
„Du kannst jetzt vorbeikommen“, sagte Ben. „Ich erklär dir dann alles. Und bring die Klarsichtfolien mit.“
Milli ließ alles liegen und brach sofort auf.
Ben wartete schon an der Tür. „Du bist unverschämt braun.“
Milli sah zufrieden an sich runter. „Du nicht“, sagte sie, „warst du die ganze Zeit drinnen?“
„Natürlich nicht“, antwortete er empört. „Aber ich hab mich auch nicht in die Sonne gelegt wie eine Grillwurst. Ich hab mit meinem Cousin Englisch gequatscht und Computerspiele gespielt.“
Milli nickte. Ihr fiel auf, dass es sehr ruhig im Haus war. „Bist du allein?“, fragte sie und sah sich um.
„Die sind einkaufen gegangen.“ Ben schob sie die Treppe hinauf. „Und Kira macht in New York ein Praktikum, die kommt erst in einem Monat zurück.“
Bens Zimmer sah unverändert chaotisch aus. Er zog einen Stapel DinA4 Blätter aus dem Regal und hielt Milli das oberste Blatt unter die Nase.
„Wie findest du das?“
Milli fielen beinah die Augen aus dem Kopf. Auf dem Blatt war ein gestochen scharfes Foto. Es zeigte einen Mann bei der Plünderung des Geldautomaten. Er hielt mit der Rechten zwei Hunderteuroscheine über den Kopf und stieß mit der Linken jemanden zur Seite. Der Mann war Pseudo, triumphierend und in voller Aktion.
Über dem Foto stand in fetten roten Buchstaben:
DER GROSSE GELDKLAU – SPARKASSE-KOPPELITZ – 1. MAI.
GESUCHT WIRD:
Hanno Benz, geb. am 16. Mai 1980 in Schwedt/Oder. Gelernter Elektrotechniker. Vorbestraft wegen Körperverletzung, Drogenhandel und Diebstahl. Wurde zuletzt in Koppelitz gesehen. Hinweise nimmt jede Polizeidienstelle entgegen. Vorsicht! Person neigt zu Gewalttätigkeiten.
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